Donnerstag, 15. Februar 2018

Verwesentlichen


Gedanken zu Beginn der Fastenzeit 2018

Ich weiß nicht, ob Ihnen das mal passiert ist, dass Sie beim Gemüsekauf einen Beutel frischer Orangen oder auch Kartoffeln ergriffen haben, und auf einmal lief Ihnen die Suppe an der Hand entlang, weil Sie die faule Frucht nicht gesehen hatten, die sich unter all den anderen knackfrischen Teilen versteckt hatte. In der ganzen Überfülle war das Faule aber nicht
zu sehen.

Auch unseren Alltag erleben wir in einer oft überbordenden Fülle von Situationen, zwischen Anforderungen anderer und unseren eigenen Vorstellungen, zwischen diesem und jenem, was wichtig ist, was sich drängend in den Vordergrund schiebt... Jedes für sich genommen ist oft neutral oder gar gut, sonst würden wir es ja nicht tun oder wollen. Innerhalb der schieren Menge aber kann es den Atem rauben, übersehen werden und gar anfangen auf unserer to-do-Liste zu faulen. Wenn wir dann zugreifen, um es endlich zu erledigen, stellen wir fest, dass die letzte Möglichkeit dazu bereits vor zwei Wochen verstrichen war. Wir werden so immer mehr gelebt, statt selber zu leben.

Schlimmer noch ist aber, wenn zwischen all dem was wir tun, wollen oder sollen, auch Dinge unter die Räder kommen, die uns sehr wichtig sind. Wir wollten diese oder jene Veranstaltung mit den Kindern wahrnehmen und dann kam doch wieder ein dringender Termin dazwischen – und jetzt verlassen die Kinder auf einmal schon wieder die Schule; dabei waren sie doch gerade dort eingeschult worden. Wir wollten doch mal wieder die Eltern besuchen, Freunde... Damit wir in all dem Getriebe nicht das Leben versäumen, sind Zeiten des Innehaltens wichtig. Wenn wir in der Fastenzeit auf Dinge oder Verhaltensweisen verzichten, die wir wie selbstverständlich wahrnehmen, merken wir durch diese Abstinenz oft erst unsere Abhängigkeit davon zu begreifen. Wenn wir in der Fülle der Angebote weniger essen als wir eigentlich brauchen, dann schärft das unseren Blick auf das, was wir wirklich brauchen. Durch Fasten kommt unser „Gott“ auch stärker in den Blick.

Ist es in der Wellnessreligion der „Körper“, die „Gesundheit“ oder das „Wohlergehen“, was in den Focus kommt, oder der „Gehorsam“, der in einer anderen Religion trainiert werden soll, immer schafft die Reduzierung Platz für das Auge unseres Geistes. Wenn Christen fasten, kommt das in den Blick, was Gott für uns vorhat – zumindest, wenn man es nicht verkürzt, die soziale Dimension. Neben all dem Privaten, dem Sport, dem Beruflichen, erscheint auf einmal das, was Gott mit den Geboten bezweckt, eine Gemeinschaft, die von der gegenseitigen Zuwendung (Fachchinesich: Gnade) lebt, die ihren Ursprung in Gottes liebender Zuwendung zu uns hat. Aber wie soll man das angehen?

Meist nutzt ja der Böse in uns einen Sprachfehler aus: wir können nicht „nein“ sagen zu Dingen und Leuten, die wir eigentlich mögen, manchmal sogar überhaupt nicht. Weil wir uns fragen Was sollen denn die Leute von uns denken (Fachchinesisch: Menschenfurcht)? Und so bleiben wichtige Dinge unter uns ungesagt, weil sie vielleicht unbequem oder nicht nett (genug) erscheinen, und Anforderungen nehmen immer mehr zu, nur weil wir nicht „nein“ sagen können. Die evangelische Kirche hat ihre Fastenaktion „sieben Wochen ohne“ in diesem Jahr unter das Motto gestellt: „Zeige dich! – 7 Wochen ohne kneifen.“ Versuchen wir doch mal sieben Wochen lang, das Nötige gleich zu tun. Nicht zu kneifen. Nicht zu sagen: Mal sehen, wenn wir „Nein“ meinen. „Nein“ zu sagen zu dem vielen, weil meine eigenen Prioritäten auch wirklich mal umgesetzt gehören – nicht total (dann geschieht nämlich nix), aber ein wenig mehr.

Nach welchem Maßstab können wir das angehen? Was ist wirklich wichtig? „Würdest du öfter über den guten Tod nachdenken, wärest du nicht so oft Sklave eines schlechten Lebens von ungewisser Länge. Erkenne, was vor dem Tod (d.i. über den Tod hinaus) Bestand hat, dann findest du leicht den Weg zu gutem Leben.“ (Thomas von Kempen, 1380-1471) Thomas rät also, das Leben vom Tod her in den Blick zu nehmen. Am Ende versöhnt mit Gott, sich und dem Nächsten sein (auch wenn er zur Familie gehört). Am Ende sich für das Gemeinwohl eingesetzt zu haben, da wo Gott mich hingestellt hat, in Familie, Beruf, Freizeit, Kirche... und nach dem Maß, was Er mir ins Herz legt. Denn Gott will und braucht keine Arbeitssklaven für Sein Reich. Er liebt es aber, so viele wie möglich zu beteiligen, damit ihr Leben einen Unterschied macht. (Das hängt mit der Erfahrung von Sinn in meinem Leben zusammen.) Er ist großherzig und lädt uns ein, großherzig zu sein.

Vielen Menschen gelingt dieser Blick erst, wenn sie von einer schweren Krankheit genesen, aufgerüttelt worden sind oder wenn sie wissen, dass der Tod nahe ist. Aber warum eigentlich? Warum leben wir nicht schon heute wesentlich? Lassen wir zuerst das Faule in unserem Leben fallen, aber auch den schönen, aber meist superliquiden Ballast, damit wir nicht das Wesentliche aus dem Blick oder gar dem Leben verlieren. Dieses Gute geschieht aber nicht von allein. Ich muss es wollen und tun ( 5 Mose oder Deuteronomium 30,15f), täglich.

Aschermittwoch, 14. Februar 2018
P. Adrian Kunert SJ

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